59. Jahrgang - 27. Mai 2007 - Freiburg


Die nachgeholte Reformation
Brasilien, Lateinamerika und Papst Benedikt XVI.
Von Johannes Röser
Über zwei Millionen Menschen haben Papst Benedikt XVI. bei seiner Reise ins größte katholische Land der Welt zugejubelt. „Die Kirche wankt nicht", rief er einer stets begeisterten Menge zu. Und machte sich und den Gläubigen Mut. Denn die Kirche wankt doch, in Brasilien nicht minder als bei uns. Niemand weiß das besser als der Papst. Stärker noch als bei den früheren fünf Aufenthalten von Johannes Paul II. wurde beim jetzigen Besuch die tiefe Zerrissenheit jener Gesellschaft deutlich: in einem Schwellenland zwischen archaischem Elend und topmoderner Hochleistungs-Technologie, zwischen verwurzeltem Magie-Aberglauben und radikalster Entmythologisierung.

Benedikt XVI. sei weniger ein Mahner. Er wolle mehr befreiend das Schöne des Christseins und Katholischseins den Menschen vor Augen stellen. Das unterscheide ihn von seinem Vorgänger. So war in vielen Zeitungen zu lesen, als neulich zum achtzigsten Geburtstag eine Zwischenbilanz seiner ersten beiden Amtsjahre gezogen wurde. In Brasilien allerdings knüpfte Benedikt XVI. nahtlos an den Moralisten Johannes Paul II. an. Die Sexualität wurde im sprichwörtlich erotisierten und erotisierenden tropischen Brasilien zu einem „Topthema". So rief er bei einem Treffen mit mehreren zehntausend Jugendlichen diese energisch zu Enthaltsamkeit und Keuschheit auf: „Es ist notwendig, sich jenen Medien entgegenzustellen, die die Heiligkeit der Ehe und der Jungfräulichkeit vor der Ehe lächerlich machen." Als „freie und verantwortliche Männer und Frauen" sollten sie das Leben fördern, gewissenhaft arbeiten gehen, nicht faulenzen, sich nicht von Reichtum blenden lassen, Materialismus und Korruption meiden und sich nicht dem geheimen Verführer Droge hingeben. „Die Jahre, die ihr jetzt verlebt, sind die Jahre, die eure Zukunft vorbereiten... Lebt mit Begeisterung, mit Freude, aber vor allem mit Sinn für Verantwortung... Es kann kein Glück ohne Treue zwischen den Partnern geben."

Ist solche Akzentsetzung weltfremd? Ja und nein. Denn tatsächlich sind die kirchlichen Vorstellungen von Sexualität der überwältigenden Mehrheit der brasilianischen Jugend - und der brasilianischen Erwachsenen - völlig egal. Aber man kann auch sagen, daß Benedikt XVI. hier einen „Knackpunkt" der brasilianischen Kultur- und Sittengeschichte seit Beginn der Kolonialzeit aufgegriffen hat: Denn die sexuelle Freizügigkeit hat eine jahrhundertealte Tradition, seit sich die ersten vierzig bedeutenden Familien, die lange politisch-ökonomisch-kulturell machtvoll bestimmend waren, an der Nordostküste niederließen. Die „gut katholischen" Oberhäupter dieser Familien zeugten schon recht bald mit den indianischen Eingeborenen und später mit den Negersklaven Nachwuchs, ganz unbeeindruckt von kirchlicher Moral, bischöflicher Meinung oder Ansichten der Fazenda-Kapläne, die im übrigen stets vom Großgrundbesitzer-Patron abhängig waren. Der Patriarch sorgte für den Zusammenhalt seines „Großfamilien"-Reichs und für dessen volksfromm religiöse Erziehung. So entstand bereits von Anfang an jene „typisch" brasilianische Mischlingsgesellschaft, in der es angeblich tolerant zugeht, wo es keine offizielle Rassendiskriminierung gibt, die sich jedoch unterschwellig nur umso feiner und heftiger als soziale Diskriminierung auswirkt.

Sex in Herrenhaus und Sklavenhütte

Über die Begründung der brasilianischen Kultur durch den engen agrarischen Zusammenhang von Katholizismus, freizügiger sexueller Lebensweise und Feudalstruktur in „Herrenhaus und Sklavenhütte" gibt es hervorragende sozio-historische Studien; am eindrücklichsten immer noch die des Soziologen und Anthropologen Gilberto Freyre - sein berühmtes Buch gleichen Titels. Der „Vater" der weißen Großfamilie war als Sklavenbesitzer zugleich der „Familienvater" aller auf seinem Besitz angesiedelten Leute - mit abgestufter Verantwortung, aber mit Verantwortung. Dies ist nicht zu idealisieren, und es ist auch nichts zu harmonisieren. Doch infolge der Abschaffung der Sklaverei und mit der Verstädterung gingen auch die ausbalancierenden patriarchalischen Stabilisatoren verloren, die einst immerhin sogar für die „Bastarde" einen gewissen Versorgungsschutz vorsahen. Nach Auflösung der hierarchisch-feudalen Sozialstruktur trat nichts Vergleichbares an ihre Stelle. Der Staat war sozial schwach und blieb es, trotz vieler Militärdiktaturen. Die Dynamik der Umwälzungen beschleunigte die neue „Familienlosigkeit", ohne Väter.

Max Weber in Brasilien

Die Kulturgeschichte prägt Lebensgefühle und Lebensstile nachhaltiger als jede Moral oder Religion. Der Katholizismus Brasiliens mit seiner eigenartigen Mischung aus volksfrommer Inbrunst und populärer Laxheit hat einen ganz anderen Weg genommen als etwa der Katholizismus Europas, der seit der Reformation immer wieder mit einem puritanisch-rationalistischen Protestantismus strenger Ordnung konfroniert war. Auf der „puritanischen Klaviatur" - wenn auch in katholischem Kontext - hat Papst Benedikt XVI. in der größten „deutschen Industriestadt" São Paulo zu spielen versucht. Er wendete sich zum Beispiel an die brasilianische Elite aus Oberschicht und gehobener Mittelschicht: Sie sollten Vorbilder sein. „Wer eine führende Rolle in der Gesellschaft übernimmt, muß sich darum bemühen, die sozialen Konsequenzen der eigenen Entscheidungen vorauszusehen, die direkten und die indirekten, die kurzfristigen und die langfristigen. Er muß für das höchstmögliche Gemeinwohl arbeiten, anstatt seinen persönlichen Profit zu suchen."

Natürlich bewirken Appelle wenig. Doch weiß Benedikt XVI., der stets eine Verbindung von Glauben und Vernunft sucht, daß unter den Intellektuellen Lateinamerikas seit längerem ein großer Disput geführt wird darüber, warum das protestantische Nordamerika ökonomisch und politisch so erfolgreich ist, während das katholische Lateinamerika seit einem halben Jahrtausend mehr oder weniger stagniert, dahindämmert in einem „Labyrinth der Einsamkeit", wie es der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz bewegend beschrieben hat: zwischen hochfliegenden Himmelsträumen und abgrundtiefer Lethargie. Ist der Katholizismus mit seinen maßlos universalen Welteroberungsträumen bei gleichzeitiger Antriebs- und Disziplinlosigkeit an der Misere des Subkontinents ursächlich schuld? Der Papst hat es nicht gewagt, diesen irritierenden Verdacht anzusprechen. Aber er steckt hinter der erheblichen Unruhe und Unzufriedenheit mit dem angestammten Machtmonopol der katholischen Kirche und ihrer Religion. Nicht wenige Lateinamerikaner denken inzwischen so: Das Katholische hemme den Fortschritt, während das Evangelische die Moderne beschleunige. Das wiederum treffe nicht nur auf jene besondere Form des Calvinismus zu, in dessen Vorherbestimmungslehre bereits Max Weber den entscheidenden Erfolg des US-Kapitalismus witterte: Wer Erfolg habe im Leben, wer reich sei und glücklich, könne daran erkennen, daß er zum ewigen Heil schon auserkoren ist. Im Gegenzug beschleunigte der Prädestinations-Glaube die irdische Tüchtigkeit, Sparsamkeit und Askese als Urtugenden des Kapitalismus und seiner Investitionskraft. Denn es ist nur allzuverständlich, daß der Mensch seinem Seelenheil unbewußt ein wenig mit auf die Sprünge helfen möchte, um aus dem gewinnbringenden Ertrag zu entnehmen, daß Gott einen tatsächlich liebt und ewigen Gewinn schenkt.

Calvins verspätete Prediger

Lateinamerika hatte den Sprung in den Zirkel dieser seltsamen Dialektik aus Kapitalismus und Glaube lange nicht geschafft - bis der nordamerikanische Protestantismus ins Land kam. Jetzt möchten nicht wenige Bürger das Versäumte nachholen. Das ist der entscheidende Grund, warum die Menschen zwischen Rio Grande und Feuerland in solchen Scharen die katholische Kirche verlassen, deren Monopol brechen und in die von Bischöfen und Priestern abschätzig so bezeichneten Sekten abwandern, also in protestantisch-charismatisch geprägte religiöse Gruppen, Gemeinschaften und Freikirchen pfingstlich-evangelikaler Orientierung. In Brasilien soll bereits ein Viertel der 185 Millionen Einwohner zu diesen Gemeinschaften übergewechselt sein.

Es hilft dem katholischen Lehramt nicht, einfach dagegen zu polemisieren und mehr missionarische Widerstandskraft zu verlangen. Denn nicht wenige Menschen sind enttäuscht darüber, daß ein fünfhundert Jahre alter, vielfach immer noch kolonialistisch-volksfromm und magisch-materialistisch geprägter Katholizismus das Leben bestimmt, indem er auf der Stelle tritt. Wenn das Heil nicht von innen kommt, soll es von außen kommen. Das pluralistische Angebot ist heutzutage verlockend da. Was liegt näher, als die Hoffnung im „Kontinent der Hoffnung" auf jene zu richten, die von den Erfolgreichen kommen, aus den USA? Während der traditionsgebundene Katholizismus in der Wiederkehr des Gleichen verharrt, erwarten nicht wenige Innovation und Fortschritt von einer „Geistreligiosität", die den stofflich-dinglichen Wunder-Aberglauben abgelegt hat. Wer nicht rückständig, wer modern sein will, „muß" einfach nordamerikanisch fromm sein. Das verschafft Prestige.

Wer hat 500 Jahre lang die Elite erzogen?

Ausprobieren war schon immer ein Merkmal brasilianischer Volksreligiosität: pragmatisch, nützlich fürs Wohlergehen. Keine intellektuelle Angelegenheit. Wenn der eine Heilige nicht hilft, sucht man sich einen anderen. Was bisher im System Katholizismus okkultistisch verankert war - da und dort verknüpft mit der Parallelwelt der afrobrasilianischen Religionen wie Candomblé, Macumba oder Umbanda -, soll nun der Protestantismus pfingstlerischer Prägung befriedigen: nicht mehr spiritistisch-primitiv, sondern spiritualistisch-anspruchsvoll. Nicht mehr Magie beschwört den Geist herbei, sondern der Heilige Geist selbst erweckt den, der seine Sünden bereut und umkehrt. Mit dem alten Materialismus „katholischen" Aberglaubens hat die gereinigte, verklärte Geisterfülltheit der charismatischen Religion nichts mehr zu tun. Den Geist hat man weiterhin, aber anders.

Dazu kommt, daß die neue pfingstlerisch-evangelische Frömmigkeit eine sehr einfache, klare Fundamentalmoral verkündet, die jeder erfüllen kann. Die „Zehn Gebote" lassen sich im Alltagsleben konzentrieren auf fünf wesentliche Verhaltensweisen: Schlag Frau und Kinder nicht! Geh nicht fremd! Sauf nicht! Schaff anständig! Bring das Geld heim! Das versteht jeder. Das erweist sich für den, der sich daran hält, als ein sehr unmittelbarer und effektiver Weg aus dem Elend. Ist ein derart protestierender „Protestantismus", der den Widerstand gegen die allgegenwärtige Versuchung von außen wie von innen lehrt, unzeitgemäß? Nein, er ist in der Sicht von Menschen, die damit Glück und Erfolg erreichen, schlichtweg wirkungsvoll, fortschrittlich.

Der katholischen Kirche Brasiliens - und nicht nur ihr - täte es gut, statt den „Proselytismus" der „Sekten" anzuprangern, in sich zu gehen und sich zu fragen, was man selber allzulange falsch gemacht hat, warum man plötzlich als antiquiert wahrgenommen wird. Die „Frankfurter Allgemeine" erklärte das Problem so: „Wer hat über Jahrhunderte die lateinamerikanischen Eliten in den Schulen und Universitäten erzogen, wenn nicht die katholische Kirche? In welchem Kontinent aber ist die katholische Soziallehre - gemessen an der Zahl der Katholiken - so wirkungslos geblieben wie in Lateinamerika?"

Offenkundig gibt es in ganz Lateinamerika, das nie eine Reformation erlebte wie Europa, nun Bestrebungen, jene abendländischen Emanzipationsprozesse nachzuholen, wenn auch mit fünfhundertjähriger Verzögerung und unter anderen Voraussetzungen. Lateinamerika kann nicht auf das protestantische Landeskirchentum unserer Prägung zurückgreifen, da diese klassischen evangelischen Formationen dort nur in Gestalt von Minderheitenkirchen einstiger Einwanderer - Lutheraner oder calvinistische Reformierte - auftauchen. Der Protestantismus Lateinamerikas zeigt sich in der neueren, freischwebenden Gestalt der nordamerikanischen oder bereits universal inkulturierten Pfingstkirchen. Das Interessante dabei ist, daß diese im Gegensatz zum traditionellen Volkskatholizismus den Gläubigen als Einzelnen - und nicht eingebettet ins Kollektiv - wahrnehmen, als individuell Erweckten. Dieser hat eine persönliche Umkehr- und Rettungserfahrung gemacht, zu der er sich bekennen muß. Dieses individuell einzigartige Erlebnis kann er als Einzelpersönlichkeit in die feiernde Gemeinschaft einbringen.

Hinzu kommt, daß sich der jahrhundertelange Priestermangel Lateinamerikas nun im Zeitalter der Individualisierung doch rächt. Es reicht nicht mehr, daß ein Pfarrer oder Fazenda-Kaplan von Zeit zu Zeit vorbeikommt, nach dem Rechten sieht, die Kinder tauft, die Beichte abnimmt, das Sakrament spendet und predigt, während sonst der Patron dafür sorgt, daß man seine Heiligen verehrt, betet, Wallfahrten macht und volksfromm-magische Wunderpraktiken pflegt. Während bei den charismatisch orientierten Gruppierungen fast an jeder Straßenecke ein „Tempel" entsteht und ein „Minister" überall bereitsteht, um sich persönlich um seine Leute zu kümmern, ist der katholische Priester oftmals weit weg. Jüngste Berechnungen haben ergeben, daß in Brasilien ein katholischer Geistlicher auf rund 7500 Gläubige kommt. In Italien beträgt das Verhältnis eins zu tausend. Die Gesamtzahl der katholischen Welt- und Ordenspriester in Brasilien - sehr viele kommen zudem aus dem Ausland - liegt bei 18000. Gemessen am italienischen Standard bräuchte man mindestens 140000 Seelsorger. Und selbst dann garantiert Quantität noch nicht die notwendige Qualität der Glaubensbildung, wie man aus den italienischen Säkularisierungstrends ebenfalls weiß.

Das schöngeredete Problem: Priestermangel

Seit einem halben Jahrhundert werden in Lateinamerika Vorschläge zur Lockerung der Zölibatspflicht gemacht. Alles ist bisher vom obersten Lehramt der katholischen Kirche abgeblockt worden. Hier in Europa heißt es immer wieder abwiegelnd, das seien doch eh nur typisch deutsche Probleme. Jeder, der Lateinamerika, wo inzwischen über die Hälfte aller Katholiken der Welt lebt, auch nur einigermaßen aus eigener Anschauung kennt, weiß, daß der Priestermangel dort sich zu einer religiösen Katastrophe sondergleichen auswächst.

Papst Benedikt XVI. hat bei seiner Brasilien-Reise dazu geschwiegen beziehungsweise nur die Tradition beschworen - und Beten eingefordert, verbunden mit Worten der Einschärfung. Die Bischöfe ermahnte er, für einen „Qualitätssprung" im kirchlichen Leben zu sorgen. Die Bischöfe müßten als „treue Diener des Wortes ohne verkürzende Sichtweisen und Verwirrung" wirken. Sie sollten „strikte Wachsamkeit" über die Wahrung des Glaubensguts ausüben, aufpassen, daß keine rationalistischen Ideologien sich dessen bemächtigen. Ebenso müßten die liturgischen Normen unbedingt eingehalten werden. Außerdem forderte der Papst die Bischöfe auf, sich mit kompetenten Mitarbeitern zu umgeben. Es reiche nicht, bloß Glaubenserfahrungen weiterzugeben. Das kann man als Mahnung verstehen, die Vernunft des Glaubens zu bedenken. Es ist vermutlich aber ebenso eine Kritik an manchen Laienhelfern und Laien-Vorstehern christlicher Basisgemeinschaften, die immer dort stark waren und sind, wo die Bischöfe Initiativen der Befreiungstheologie unterstützt hatten.

Die Früchte der Befreiungstheologie

Allerdings hat diese Bewegung seit der allgemeinen Ernüchterung über sozialistische Modelle - insbesondere seit dem Zusammenbruch des Ostblocks - erheblich an Aufmerksamkeit verloren. Das heißt nicht, daß die Befreiungstheologie gesellschaftlich bedeutungslos geblieben wäre. Im Gegenteil: Die Tatsache, daß sich in breiten Bevölkerungsschichten Lateinamerikas ein demokratisches Bewußtsein gefestigt und daß sich im Durchschnitt die ökonomische Lebenssituation in den letzten Jahren leicht gebessert hat, ist den befreiungstheologischen Anstrengungen ganz wesentlich, ja entscheidend, mitzuverdanken. Und vor allem auch den vielen mutigen und opferbereiten Gläubigen unter christlichen Laien, Ordensleuten, Priestern, Bischöfen, die als wahre Märtyrer für soziale Gerechtigkeit drangsaliert, gefoltert, umgebracht wurden. Papst Benedikt XVI. hat es leider versäumt, dieser vielen tausend Menschen mit einem klaren und mutigen Wort in Gebet und Liturgie zu gedenken. Es ist ferner ein Skandal europäischer Überheblichkeit und journalistischer Blasiertheit, daß jene religiös-spirituell inspirierte realpolitische und kulturelle Erfolgsgeschichte für Lateinamerika jetzt nachträglich schlechtgeredet wird, als ob es sich dabei nur um sozialistische Illusionen und Träumereien gehandelt habe. Andererseits stimmt es natürlich: Es herrscht auch Frustration, weil der große Durchbruch trotz aller Mühen ausblieb. Die Ernüchterung zeigt sich in Brasilien besonders. Viele Befreiungstheologen und Intellektuelle wenden sich vom jetzigen Staatspräsidenten Luis Inácio da Silva ab, den sie einst als Gewerkschaftsführer und Vorsitzenden der Arbeiterpartei zum politischen „Messias" Brasiliens stilisiert hatten. Wie so oft holt die Realität theologische Visionen ein - und überholt sie. Wie darauf reagieren?

Joseph Ratzinger hatte stets ein sehr distanziertes, strikt ablehnendes Verhältnis zur Befreiungstheologie wie zur politischen Theologie überhaupt. Daran hat sich bei ihm auch als Papst nichts geändert. In vielerlei Hinsicht ist ihm Lateinamerika, wie diese Reise zeigte, im Tiefsten fremd geblieben. Benedikt denkt und glaubt als „hellenistischer" Europäer, als Intellektueller inkulturiert in einen bayerischen Volkskatholizismus, der die Vernunft sucht im Horizont eines von vielen ganz selbstverständlich geteilten Glaubens. Zur befreiungstheologischen Thematik, die einmal Millionen Menschen aufgewühlt hatte, erklärte er nur am Rande: „Ich würde sagen, daß sich mit dem Wandel der politischen Situation auch die Situation der Befreiungstheologie tiefgreifend verändert hat. Jetzt ist offenkundig, daß die einfachen chiliastischen Vorstellungen verfehlt waren, die unmittelbar, als Folge der Revolution, die vollständigen Bedingungen für ein gerechtes Leben versprachen. Das weiß heute jeder. Jetzt ist die Frage, wie die Kirche im Kampf für die nötigen Reformen präsent sein kann, im Kampf für gerechtere Lebensbedingungen."

Und wie steht es um den Kampf für Reformen im Glauben selbst? Auch nach dem Papstbesuch ist nicht erkennbar, wie sich die katholische Kirche in Brasilien und Lateinamerika der Herausforderung von Moderne und Postmoderne zugleich stellen will. Da gibt es weiter auf der einen Seite die millionenfach genährte volkstümliche Wundersucht, die durch des Papstes Heiligsprechung des Franziskaners Antonio Galvao bestätigt wurde, jenes Seelsorgers des 18.Jahrhunderts, der predigend und heilend durchs Land zog, der sich den Armen und Kranken zuwendete. Die Legenden des Glaubens und des Aberglaubens werden weitergetragen: etwa daß er an mehreren Orten gleichzeitig anwesend sein konnte; daß er künftige Ereignisse vorhersah und beim Beten über dem Boden schwebte. Und auch heute noch werden an die von ihm Heil und Heilung erhoffenden Menschen Gebetszettelchen ausgegeben, zu Pillen gedreht, die man nur schlucken muß, damit das Anliegen erhört werde...

Gegenreformation löst die Probleme nicht

Auf der anderen Seite erreichen uns Meldungen, daß die Brasilianerinnen und Brasilianer, die keiner Religion mehr angehören, die sich bewußt als Atheisten verstehen, bereits an die zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, insbesondere im aufgeklärten, laizistischen Bürgertum. Und nicht nur sie, auch manche frommen Pilger, die beim Marienheiligtum Aparecida den angesengten Rennhandschuh des Formel-1-Piloten Ayrton Senna gesehen haben, den dieser als Dank für einen überstandenen schweren Unfall niedergelegt hatte, fragen sich skeptisch, was das alles eigentlich noch mit wahrer Religion zu tun hat - wenn derselbe Senna in Imola dann doch ums Leben kam.

Michael P.Sommer vom Lateinamerika-Hilfswerks „Adveniat" sagte neulich: „Säkularisierung ist kein auf die Industriestaaten beschränktes Phänomen. Traditionsgebundene und traditionsgestützte Wertmuster lösen sich auch in Lateinamerika zunehmend auf. Vielerorts geht dies mit einer starken Emanzipation von christlichen Werten einher."

Die nachzuholende Reformation hat Brasilien und ganz Lateinamerika längst eingeholt. Im Zuge der globalen Säkularisierung rückt die Neue Welt uns, der Alten Welt, wieder nah und näher. Der Papstbesuch in Brasilien, wo jetzt die Versammlung des lateinamerikanischen Bischofsrates tagt, hat den Blick auf eine tiefgreifende Erschütterung der katholischen Kirche, ja des Christentums überhaupt gelenkt. Der vom Papst beschworene „Qualitätssprung" kommt ohne Glaubensreform und ohne Kirchenreform nicht aus. Jede Reformation hat Gründe. Ob diesseits oder - zeitlich verzögert - jenseits des Atlantiks: Bloße Gegenreformation beseitigt sie nicht. Auch das müßten Christen - und Katholiken - aus der Geschichte gelernt haben.

CiG 21/2007

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